Wie fasst man ein Jahrhundert?
Unter sechs Intendanten erlebte der Verein Freilichtspiele Schwäbisch Hall e. V. in seinen bisher 100 Jahren Spielzeit allerhand. Von den ersten Spielzeiten, damals wurde nur das Stück „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal aufgeführt, bis zu den drei Inszenierungen auf der Großen Treppe, die heute den Kern der Festspiele bilden, ist eine Menge Zeit vergangen. Was als sommerliche Freilichtfestspiele begann, entwickelt sich mehr und mehr zu einer ganzjährigen Institution. Hierfür war der Bau des Haller Globe Theaters ein bedeutender Meilenstein. Zum Anlass des 75-jährigen Jubiläums der Freilichtspiele im Jahr 2000 wurde das hölzerne Freilicht-Rundtheater in einer Bürgeraktion auf der Kocherinsel Unterwöhrd errichtet. Knapp 16 Jahre später beschloss der Haller Gemeinderat einen feststehenden Theaterbau an selber Stelle. Nach dem Vorbild des elisabethanischen Globe Theaters in London, in dem schon William Shakespeare seine Werke inszenierte, konnte das Neue Globe 2019 nach rund zwei Jahren Bauzeit in Hall eröffnet werden.
Inzwischen gibt es ganzjährig Theaterstücke für die gesamte Familie zu sehen. Stücke, die von und mit den Menschen in Hall leben. Das ist es auch, was nach einem Jahrhundert in den Köpfen bliebt: die Erinnerungen und Glücksmomente der Menschen rund um die Freilichtspiele. Allein durch die sommerlichen Proben auf der großen Treppe vor St. Michael schaffen die Freilichtspiele stetig neuen Kontakt zu all jenen, die ihnen so am Herzen liegen: dem Publikum und den Hallern. Die Leute kommen vorbei, bleiben stehen, sie schmunzeln und staunen und gehen dann weiter. Das sind die kleinen Augenblicke, die wirklich zählen.
Deswegen beginnen die Freilichtspiele bereits in den Sommermonaten 2023 all diese kostbaren Momente zu sammeln, egal wie klein oder groß, wie gewöhnlich oder außergewöhnlich sie sein mögen. Es werden Interviews geführt, über 2000 Menschen angeschrieben, Archive durchsucht und in alten Fotos gestöbert. „Die Herausforderung liegt darin, die Geschichten aus der Sicht und mit der Stimme derer wiederzugeben, die sie erlebt haben“, berichtet Florian Götz, Theaterpädagoge und Leiter der Sonderprojekte zur Jubiläumsspielzeit.
Unter der Vielzahl von gesammelten Geschichten findet sich auch die von Ernst-Martin Strieter. Als siebenjähriger, im Jahr 1953, besucht er zum allerersten Mal die Nachmittagsvorstellung der Freilichtspiele mit seiner Mutter. Der Tod und der Dünne Vetter in „Jedermann“ beeindrucken ihn dabei so sehr, dass er sich zuhause selbst eine kleine Bühne im Wohnzimmer errichtet. Bauklötze dienen ihm als Podeste und ein Handtuch über der Tür imitiert den Vorhang. In schwarzer Jacke steigt er auf einen Stuhl und ruft: „Ich bin der Tod!“
Mit zwölf Jahren steht für Strieter dann fest: Er will Theaterschauspieler werden. Das verkündet er nach der Saison im Büro von Intendant Wilhelm Speidel der Freilichtspiele und fragt nach einer Rolle. Speidel lacht herzlich und legt so den Grundstein für eine lange Freundschaft. Er rät Strieter dazu mal besser Pfarrer zu werden, was er letztendlich auch tut. Die Liebe zum Theaterspielen hat er sich allerdings beibehalten. In seiner Gemeinde in Ebersbach/Fils gründet er eine Theatergruppe und spielt sogar die Hauptrollen.
Dora Riss erzählt, wie sie im Juni 1971 ihre Mutter in Schwäbisch Hall besucht und dort die Liebe ihres Lebens Walter Ehrler kennenlernt, der zu dieser Zeit Regieassistent beim Stück „Iphigenie auf Tauris“ der Freilichtspiele ist. Nach Jahren ihrer Beziehung ziehen sie gemeinsam nach Schwäbisch Hall. Leider aber verstirbt Ehrler nach langer Krankheit nur kurze Zeit später. Im November 2023 tritt Riss dem Chor der Freilichtspiele bei und steht bei der Premiere von „Wie im Himmel“ 2024 schließlich auf der großen Treppenbühne. Riss ist sich sicher, dass ihr Ehemann von oben zusieht. Für sie schließt sich der Kreis – sie sind beide genau da, wo ihre Liebe vor vielen Jahren begonnen hatte.
Diese und weitere Gänsehautmomente sollen im Kulturjubiläumsjahr 2025 spürbar sein und der Öffentlichkeit in verschiedenen Formen zugänglich gemacht werden. Stadtweit werden die Geschichten und Anekdoten mit großflächigen Fotos ab dem Kulturfest im Mai ausgestellt: Im Hällisch-Fränkischen Museum zum Thema „Hinter den Kulissen“, „Freilichtspiele und Nationalsozialismus“ in der Volkshochschule und „Jedermann“ im Atelier Kunsthaus Hirtenscheuer. Zusätzlich sind in den Geschäften, Institutionen und Gastronomiebetrieben der Innenstadt immer wieder Bilder und einige Geschichten zu finden.