Einmal Sieder – immer Sieder
Die Wurzeln der Sieder sind so alt wie die Stadt selbst. Beide verdanken ihr Dasein dem Salz. Nachgewiesen wurde die Salzwirtschaft in Hall erstmals um 280 v. Chr., zur Zeit der Kelten. Kein Wunder also, dass der Name der Stadt ebenfalls vom Salz stammt. Das Althochdeutsche Wort „Hal“ bedeutet nämlich Salzquelle.
Nach Kriegsende 1945 lag die Stadt zu Teilen in Trümmern, auch von den Siedern war kaum etwas übrig geblieben. Doch die Hallerinnen und Haller besannen sich recht schnell zurück auf ihre Werte und Traditionen. Zu Pfingsten 1950 konnte bereits wieder ein Siedershof bestehend aus 49 Mitgliedern – allesamt aus Siedersfamilien – aufgestellt werden. Unter ihnen gab es 14 Tanzpaare, jeweils zwei Pfeifer, Trommler und Landsknechte, je einen Fahnen-, Kuchen- und Kannenträger und 12 Lanzensieder.
Traditionell gekleidet sind die Sieder in einer Tracht aus Rot, Schwarz, Grün und Weiß anzutreffen. An Pfingsten, einem Fest mit einzigartiger Bedeutung für den Siedershof, sind die farbenfrohen Trachten in Hall unmöglich zu übersehen. Wo genau die Ursprünge des Festes liegen, ist bis heute unbekannt. Doch beim alljährlichen Kuchen- und Brunnenfest wie wir es heute kennen, dessen Form auf eine 1785 erlassene Festordnung zurückgeht, lebt das Brauchtum der Sieder in voller Größe auf. Das Fest verbindet den Brunnenzug, bei dem für das Leben spendende Wasser und das lebensnotwendige Salz gedankt wird, mit dem historischen Kuchenfest, um das sich Legenden wie der Mühlenbrand ranken. So bekommen Besuchende unter anderem die Präsentation des Siederskuchens, Siederstänze und eine Nachstellung des Mühlenbrands mit Rettung der Müllersfamilie zu sehen.
Für Familie Wenger steckt weit mehr im Großen Siedershof als ein Fest und Brauchtum. „Wir gehen mit der Zeit, erinnern uns aber immer an unsere Wurzeln. Doch die Gemeinschaft, die dahinter steht, macht es wirklich aus“, betont Christoph Wenger. Seine Familie gehört den ursprünglichen Siedern in Hall an, deren Stammbaum in einem Stammbuch mit Bildern und Namen festgehalten ist und sich bis 1536 nachverfolgen lässt. Wie viele andere Siedersfamilien auch, erinnert sich Wenger, dass seine Familie seit Generationen aktiv im Großen Siedershof eingebunden ist. Zu Zeiten seiner Eltern war es noch so, dass die aktive Mitgliedschaft mit der Verlobung endete, da nur ledige Söhne und Töchter siedeberechtigter Haller Familien dem Siedershof angehören durften. Auch Wengers Eltern waren im Siedershof aktiv und heirateten im Kreise der Sieder. Seine Mutter war von 1958 bis 1963 dabei und die erste Siederin, die mit einer bronzenen Rathausmedaille geehrt wurde. Sein Vater, seinerzeit Erster Hofbursche, wurde 1979 zum Ehrensieder ernannt.
Wenger selbst wuchs in das Siedersleben hinein. 1979 trat er dem Kleinen Siedershof bei, 1987 erfolgte der Wechsel zum Großen Siedershof, wo er bei den Tänzern anfing. Ein Jahr später lernte er seine Tanja kennen, die selbst den Siedern angehörte. Zusammen sind die beiden seit 1991, verheiratet seit 2002. Fast der gesamte Freundeskreis des Paares besteht aus Siedern, weil alle von damals bis heute in Hall blieben und hier leben. „Beim Landestreffen am Wochenende gemeinsam auf dem Turnhallenboden schlafen, das verbindet einfach“, meint Wenger. „Wer einmal Sieder war, wird immer Sieder sein. Man wird dann halt zum passiven Sieder, aber diese Verbindung ist prägend.“ Und es wird einiges erlebt. Wengers Tante hat die Queen empfangen, er selbst durfte Gorbatschow bei einem Auftritt der Sieder in Stuttgart die Hand schütteln.
Bei den Siedern, für die Tradition und Brauchtum, Demokratie und Gemeinschaft wichtige Grundsäulen sind, gibt es zum Glück keine Nachwuchssorgen. Kein Wunder also, dass die beiden Kinder der Wengers freiwillig und traditionsbewusst in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Die 18-jährige Marie ist Teil der Fanfarenspieler, der ein Jahr jüngere Sohn David bei den Trommlern. „Seit ihrer Kindheit kriegen sie mit, was es bedeutet, Sieder zu sein. Dass es mehr fasst als Auftritte in der Öffentlichkeit“, erzählt Tanja Wenger. Sie ist stolz auf ihre Kinder und auf das, was diese große Siedersfamilie ausmacht. Christoph Wenger, der heute beim Spielmannszug, im Haalrat und bei der Feuerwehr tätig ist, schließt sich seiner Frau an: „Man ist stolz ein junges Glied dieser endlosen Kette zu sein.“ Er hat keine Ahnung, wer diesen Spruch erfunden hat, aber für ihn sagt er alles, was es zu sagen gibt.
Die Zusammengehörigkeit der Sieder ist spürbar. Auch für Außenstehende, die beim Anblick des Kuchen- und Bunnenfests 2024 begeistert verfolgten, wie der Erste Hofbursche Stefan Ebert sich mit einer kleinen Tänzerin über den Marktplatz dreht. Früher sotten die Haller Sieder Salz auf dem Haalplatz, fungierten als Feuerwehr und dienten in der alten Reichsstadt als Bürgerwache. Heute überliefern sie uns mehr als ihren Brauchtum. Sie schenken Hall die Gemeinschaft ihrer eingeschworenen Truppe, ihrer Familie.